Schuhproduktion: Arbeitsrechte mit Füssen getreten

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Längst sind Schuhe zu einem Modeobjekt geworden - und zu einem Wegwerfprodukt. Sie werden zu Discounterpreisen angeboten und nur noch selten repariert: Das "Fast-Fashion"-Modell der Kleiderbranche hat auch die Schuhproduktion erreicht. Doch wir können Schuhe nur deshalb derart billig und in solchen Massen kaufen, weil andere einen hohen Preis bezahlen - mit gesundheitsgefährdender Arbeit, mit unbezahlten Überstunden, mit einem Leben in Armut.

Mehr als 6 Paar Schuhe konsumieren Menschen, die in der Schweiz leben, pro Jahr. Produziert werden sie vorwiegend in Asien (87%); Europa ist für rund vier Prozent der weltweiten Schuhproduktion verantwortlich. Doch so klar lässt sich die Herkunft oft gar nicht feststellen: Wie bei der Kleiderproduktion werden verschiedene Produktionsschritte auf Länder rund um den Globus verteilt und die arbeitsintensiven, repetitiven und wenig lukrativen Arbeitsschritte wie Zuschneiden, Nähen oder Kleben an Unterlieferanten in Billiglohnländern ausgelagert.

Globale Schuhproduktion.
(Grafik: Public Eye Magazin Nr. 5)

Miese Löhne

Auch die Missstände in der Schuhindustrie sind denen der Textilindustrie sehr ähnlich: Die Mindestlöhne in der Schuhindustrie gehören in fast allen Ländern zu den tiefsten und reichen kaum zum Leben. Nehmen wir als Beispiel Rumänien: Während der gesetzliche Mindestlohn bei umgerechnet gerade einmal 167 Schweizer Franken liegt, benötigte eine vierköpfige Familie Berechnungen der Regierung zufolge fast fünf Mal so viel Geld, nämlich 788 Schweizer Franken, um für sich aufkommen zu können.

Dieses Beispiel zeigt auch: Die extrem tiefen Löhne in der Schuhbranche sind ein globales Problem, das vor Europa keineswegs Halt macht.

Albanerinnen (CHF 153), Rumänen (CHF 190) und Mazedonierinnen (CHF 173) verdienen im Schnitt sogar weniger als ihre chinesischen Kollegen (CHF 438, alle Zahlen Stand Anfang 2016). Einen Einblick in das Leben mit einem solchen Einkommen gibt unsere Reportage aus Albanien.

Die Löhne in der Schuhindustrie reichen nicht für ein würdiges Leben.
(Grafik: Public Eye Magazin Nr. 5)

„Made in Europe“ ist nicht zwangsläufig fairer

„Made in Europe“ steht also nicht per se für bessere Produktionsbedingungen als etwa jene in asiatischen Ländern. Die systemimmanenten Probleme der Bekleidungs- und Schuhindustrie – Tiefstlöhne, unbezahlte Überzeit, fehlende Arbeitssicherheit – existieren auch in Europa, wie unsere Recherche zeigt. So werden sehr viele der Befragten nicht pro Stunde, sondern pro Stück bezahlt, mit der Folge, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter z.B. keine Handschuhe tragen, um die nötige Stückzahl zu erreichen. Um auf ihre Quote zu kommen, leisten sie ausserdem unbezahlte Überstunden; hinzu kommen giftige Chemikalien, die insbesondere beim Gerben des Leders, aber auch bei der Schuhproduktion zum Einsatz kommen. Auch ein aktueller Film des ChangeYourShoes-Netzwerks zeigt Missstände in einer GEOX-Fabrik in Serbien auf.

Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen haben die Arbeitenden aber am Verkaufserlös des fertigen Produkts den kleinsten Anteil.

Anteil der Lohnkosten am Verkaufspreis.
(Grafik: Public Eye Magazin Nr. 5)

Gefahr für die Gesundheit

In der Schuhindustrie sind Arbeiterinnen und Arbeiter einer ganzen Reihe von gesundheitsgefährdenden Chemikalien ausgesetzt. Der Einsatz von Klebstoffen und Reinigungsmitteln, die oftmals Stoffe wie Benzol, Dichlorethan und Hexan enthalten, führt häufig zu Vergiftungen. Der regelmässige Kontakt mit Benzol kann gar Leukämie verursachen. Beim Vulkanisieren von Stoffen wie Latex zur Herstellung von Gummi werden giftige Dämpfe freigesetzt; vielen wird davon schwindlig, sie kriegen Hustenattacken oder müssen sich übergeben. Atemwegsbeschwerden und Asthma sind häufig. So klagten Beschäftigte der Schuhindustrie in Albanien über Kopfschmerzen, Allergien und Hautprobleme, in Rumänien beschwerten sich Arbeiterinnen und Arbeiter über den beissenden Gestank in der Fabrik, in einer mazedonischen Produktionsstätte berichteten sie von Bronchitis und anderen Lungenproblemen wegen des eingesetzten Leims. Die Arbeitsumgebung ist laut und staubig, immer wieder gibt es Unfälle an alten Maschinen, und längst nicht immer wird die nötige Arbeitsschutzbekleidung zur Verfügung gestellt.

Auch die Arbeit in den Gerbereien ist gesundheitsgefährdend: Rohleder ist schwer, schmutzig und stinkt. Kein Wunder werden zum Grossteil Migranten beschäftigt, in der italienischen Gerbeindustrie insbesondere aus dem Senegal. Und die Arbeit ist gefährlich: Unfälle sind ebenso an der Tagesordnung wie Gelenkschäden wegen des Hebens der schweren Häute und Allergien oder gar Tumore, ausgelöst durch den Kontakt mit chemischen Substanzen. Eines der grössten Risiken ist die Verwendung von Chrom. 80 Prozent allen Leders wird heute mithilfe des Mineralsalzes Chrom III gegerbt. Das Problem: Bei oder nach der Gerbung kann es zur Bildung von Chrom VI kommen – einem krebserregenden und allergenen Stoff, der nicht nur für die Beschäftigten und die Natur schädlich ist, sondern auch für jene, die die Schuhe später tragen.

Der ARD Montags-Check befragt Arbeiterinnen in Rumänien. Machen Sie sich ein Bild von der Schuhproduktion in Osteuropa. (25. April 2016, ARD)

Fehlende Verträge

Informelle Arbeitsverhältnisse sind in der Schuhindustrie mancher Länder eher die Regel denn eine Ausnahme. Ohne Arbeitsvertrag wird den Arbeitenden die Chance auf ein Mindestmass staatlicher sozialer Absicherung oder gesetzlich vorgeschriebener Leistungen genommen: Sie haben weder Rechtsschutz noch werden sie in offizielle Statistiken aufgenommen. Das Problem ist altbekannt: Bereits 1996 gab der damalige Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu, dass niemand wisse, wie viele Menschen informell in der Kleider- und Schuhproduktion tätig seien.

Lange Arbeitstage und schwache Gewerkschaften

Die Arbeit in der Schuhindustrie ist geprägt von langen Arbeitstagen und regelmässigen Überstunden. In China etwa gilt eigentlich der Acht-Stunden-Tag; die wöchentliche Arbeitszeit ist auf maximal 44 Stunden befristet. Viele Arbeiterinnen geben jedoch an, dass sie regelmässig zu Überstunden gezwungen werden. Weigern sie sich, haben sie disziplinarische Verwarnungen, Abzüge von Vergütungen, Erniedrigungen oder Beschimpfungen zu befürchten. In Indonesien ist Überzeit von drei bis vier Stunden an der Tagesordnung. Die Überstundenvergütung hilft, das magere Einkommen zu verbessern; einmal keine Überstunden zu leisten, heisst, vielleicht nie mehr Überstunden leisten zu dürfen. In der Türkei arbeiten die Menschen im Schuhsektor regelmässig bis zu 13 Stunden. Auch sie sind auf Überstunden angewiesen, um ihre tiefen Grundlöhne aufbessern zu können; der zusätzliche Lohn wird denn auch von den meisten als wesentlicher Bestandteil des regulären Einkommens betrachtet.

Auch wo Arbeiterinnen nicht zu Überstunden gezwungen werden, müssen sie diese oftmals leisten, um private Schulden abzuzahlen.

Zudem wird häufig „doppelte Buchführung“ betrieben: Eine Liste für die Behörden, eine inoffizielle Liste für die Beschäftigten. Der Mindestlohn wird auf das Konto der Arbeiterinnen überwiesen, darüber hinaus gehende Stunden bar vergütet. Kurzfristig kann das attraktiv sein; auf Dauer entgehen den Arbeiterinnen jedoch wertvolle Einzahlungen in die Renten- und Sozialversicherungen. Sich gegen diese Zustände zu wehren ist für einzelne Arbeitnehmende fast unmöglich, und Gewerkschaften in der Schuhindustrie sind schwach. Gewerkschaftliche Organisation wird vielerorts behindert; Leute, die sich dennoch organisieren, werden staatlich verfolgt.